Maske:
Menschenversuch
Es gibt Figuren, die wie Apparate funktionieren, nur dass sie nicht wie solche summen. Hinter der Maske ist kein Wesen spürbar, dem ersetzbaren Aussen entspricht das austauschbare Innen. Damit hören
sie auf, Maske zu sein. Es wäre denkbar, mein tönernes Objekt mit dem Titel «Menschenversuch» zu beleuchten und als Cyborg ins Leben zurückzuholen.
Schüttelfrost - Geschichten aus einer kalten Schweiz. Erschienen im Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2003.ISBN 30-280-06010-9
Schüttelfrost befällt mich bei mancher der Geschichten, die mir zugeflogen sind. In einer Schweiz, die ich liebe. Und über die ich mich ärgere wegen ihrer dunklen Seiten, die meist dem schrecklichen
Willen entspringen, gut zu sein und Gutes zu tun. «Schüttelfrost» heisst das Buch, in dem ich solche Geschichten versammelt habe. Ich drucke gerne die Buchkritik ab, die der Kulturverantwortliche
Manfred Papst der «NZZ am Sonntag» verfasst hat:
NZZ am Sonntag, 5. Oktober 2003:
Was der Kritiker sagt:
Von Manfred Papst
Willi Wottreng, Redaktor im Ressort Hintergrund bei der «NZZ am Sonntag», hat sich neben seiner journalistischen Tätigkeit immer wieder als Buchautor zu Wort gemeldet. Unter dem Titel «Hirnriss»
schilderte er 1999, wie die Irrenärzte August Forel und Eugen Bleuler das Menschengeschlecht retten wollten; im Jahr darauf beschrieb er in «Ein einzig Volk von Immigranten» die Geschichte der
Einwanderung in die Schweiz, und 2002 widmete er sich in «Tino, König des Untergrunds» dem Gründer der Schweizer Hell's Angels. Nun legt er unter dem Titel «Schüttelfrost» eine Auswahl seiner
Gerichts- und Sozialreportagen aus den letzten Jahren vor; die meisten sind in der «alten» «Weltwoche» erschienen. Im Vorwort notiert er, dass er diese Geschichten nicht gesucht habe. Sie seien ihm
zugeflogen, und als Sammlung erschreckten sie ihn, weil er sich nicht vorgesetzt habe, die Schweiz so zu sehen: als Puzzle von abstrusen und aufwühlenden Schicksalen, von Gewalt und alltäglichem
Wahnsinn.
Manche der Geschichten, die Wottreng erzählt, sind in der Erinnerung noch gegenwärtig: etwa die vom Bankräuber, der, mit einer Wasserpistole bewaffnet, in die UBS-Filiale von Burgdorf marschierte,
127 020 Franken erbeutete und sich wenig später widerstandslos ergab; oder jene vom Tontechniker beim Schweizer Fernsehen, der über Jahre Kameras, Videorecorder und Laptops, ja selbst Gitarren aus
dem Studio mitgehen liess, aber nie ein Gerät verkaufte oder verschenkte, sondern die ganze Pracht nur daheim hortete.
Wottreng erzählt aufmerksam, mit teilnehmendem Blick, aber unaufgeregt und ohne etwas dramaturgisch zuzuspitzen. Die Geschichten selbst sind aufregend genug. Wo ein Autor wie Erwin Koch den grellen
Kontrast sucht, begnügt er sich mit unauffälligen, aber sprechenden Details. Mit spürbarer Sympathie schreibt er über Aussenseiter und «Verschupfte» wie den «Kaspar Hauser von Leuk». Ein
Sozialromantiker ist er jedoch nicht. Vielmehr ist sein Impetus der des Aufklärers: Es geht ihm um Toleranz aus differenzierter Einsicht, nicht aus Gefühlsüberschwang. Zwar wird man seinen Standpunkt
mit dem Titel von Leonhard Franks Autobiografie «Links, wo das Herz ist» vermuten dürfen, doch nimmt er sich als Reporter stets zurück. Er will nicht entlarven, sondern nur beschreiben, was er sieht.
Und das ist oft alarmierend genug.
Wottrengs Umsicht bewährt sich besonders in jenen Geschichten, denen die Zeit nichts von ihrem Schrecken hat nehmen können, die nicht (wie viele andere in dem Buch) auch eine komische Seite haben: in
der «Tragödie auf der Engelswiese» zum Beispiel, als im St. Galler Stadtteil Bruggen der Vater eines Mädchens aus Kosovo dessen Lehrer erschoss. Wottreng schafft es, diesen Fall zugleich exakt und
taktvoll zu erzählen, und so, dass man das Geschehen hernach besser versteht, ohne deshalb etwas zu verharmlosen.
«Der Kaspar Hauser von Leuk»
Wie der erbberechtigte Schlossherr von Leuk jahrelang unschuldig in Anstalten und hinter Gittern gehalten wurde. Ein Walliser Sittenbild.
«Der Kaspar Hauser von Leuk» erschien in der «NZZ am Sonntag» vom 2. Februar 2003. Der Text erregte einen kleinen Aufruhr in Oberwalliser Kreisen und provozierte einige böse Briefe an die
Chefredaktion.
«Die Täterin»
Sie zündet an, was brennbar ist. Dann tötet sie mit einem Messer Frauen, die ihr völlig unbekannt sind. Nun hat die Schweiz nicht nur den Wolf, sondern auch ein wilderndes Weib. Die Geschichte eines
kühlen Wahnsinns.
«Die Täterin», erschien in der «Weltwoche» vom 15. Juli 1999.
«Dorfkrieg»
Wie ein altgedienter Gemeindeschreiber zum Medienopfer wurde. Ein kleines Lehrstück in Gemeindedemokratie oder: Schlammschlacht in der Provinz.
«Dorfkrieg» erschien in der «Weltwoche» vom 13. Mai 1999.
«Das ist nicht mehr mein Mann»
An der Universität Zürich wird ein Parkinson-Patient am Gehirn operiert. Die Symptome verschwinden, doch es kommt zu seltsamen Veränderungen der Persönlichkeit.
«Das ist nicht mehr mein Mann» erschien in der «Weltwoche» vom 14. September 2000.
«Tragödie auf der Engelswiese»
In St. Gallen wird ein Lehrer wird erschossen. Der Fall scheint klar: Der Täter ist der Vater eines Mädchens aus Kosova. Doch das Drama hat seine Vorgeschichte, die niemand beachtet.
«Tragödie auf der Engelswiese» erschien in der «Weltwoche» vom 11. März 1999.
«Geliebte Befreier»
Internierte amerikanische Bomberpiloten und Soldaten auf Urlaub werden von Schweizer Frauen umschwärmt. Doch Liebe kann Folgen haben. Das Tabu der unehelichen Kinder der GIs.
«Geliebte Befreier» erschien in der «NZZ am Sonntag» vom 22. Dezember 2002.
Alle dies Sozialreportagen wurden, teilweise in überarbeiteter Form, in den Sammelband «Schüttelfrost - Geschichten aus einer kalten Schweiz» aufgenommen.
«Negeraufstand herrscht in Kuba»
Die Geschichte eines Jahrhunderts in den Liedern seiner Kinder. Von den «Franzosen mit den gelben Hosen» über: «Der Hitler kam geflogen, auf einem Fass Benzin» bis zu «Negeraufstand herrscht in
Kuba».
«Negeraufstand herrscht in Kuba. Schüsse gellen durch die Nacht», erschien als «Extra» in der «Weltwoche» vom 11. Juni 1998.
«Aufriss in der Küche»
Ein Dossier darüber, warum man Gurkengläser und plastikverschweissten Fleischkäse nicht öffnen kann. Die kleine Abhandlung zum grossen Thema Verpackungen.
«Aufriss in der Küche» erschien als «Extra» in der «Weltwoche» vom 1. Juli 1999.
Leserumfrage und Expertenmeinungen zum letzten Tabuthema – dem Kampf mit der Verpackung
Neben einer Packung Orangensaft kann man glatt verdursten.» Das ist nur eine unter vielen Klagen, die den Autor erreichen, als er sein Vorhaben bekanntgibt, dem täglichen Leid rund um Verpackungen
nachzugehen. Ein halbes Hundert Telefonanrufe und Zuschriften erhält der Alltagsforscher im Lauf der folgenden Wochen. Der Chef des Ressorts Kultur bringt dem überlasteten Redaktor, der mit der
Auswertung der Umfrage beschäftigt ist, liebevoll ein Schächtelchen Läkerol, in eine Plastikhülle eingeschweisst, klaubt den präparierten Plastikfaden hervor und zieht demonstrativ daran. Der Faden
flutscht heraus, die Verpackung bleibt ungeöffnet.
Der Frust eines Bären, der versucht an den Honig in einem Bienennest zu gelangen, kann nicht grösser sein. «Ich habe Lust auf ein Zeltli», erzählt eine ältere Dame, «nehme freudvoll den Sack zur Hand
und versuche ihn zu öffnen. Bis ich alle Öffnungsvarianten getestet habe, ist die Lust nach der Schleckerei vergangen.» Ihre Tochter hat andere Gelüste, aber deswegen nicht geringere Probleme:
Sülzli! «Ich bringe die Sülzli nie intakt aus dem Klarsichtbecher; sie zerfallen, weil sie am Kunststoff kleben und weil kein Platz ist, mit einem Messer hineinzufahren.»
Das sind nicht die grössten Probleme der Welt und Süssigkeiten und Sülzigkeiten nicht lebensnotwendig. «Ich habe Schnupfen und kann nicht einschlafen», erzählt jemand, «und erinnere mich: Ha, ich bin
im Besitz von einem Nasenspray. Die Gebrauchsanweisung wird gelesen, doch der Versuch, das Fläschchen zu öffnen, misslingt. So greife ich zur Zange, breche den Metallverschluss ab und kann nun die
Düse nicht mehr aufsetzen.»
Weitere Beispiele aus den eingegangenen Antworten. «Ich versuche, vakuumverpackten Kaffee mit der Schere zu öffnen, weiss aber nicht recht wo. Egal, irgendwo. Sobald der erste Schnitt getan ist,
bröselt ein wenig Kaffee auf den Schüttstein.» Dieser Hausmann, der nicht weiss wo beginnen, mag unbedarft erscheinen, er ist aber immerhin Wissenschaftsredaktor.
«Nervig sind die Kartonverpackungen, die einen bei Postsendungen von Büchern erreichen und nicht mehr gebraucht werden können, wenn sie einmal aufgerissen sind. Eine klare Verschlechterung gegenüber
den alten Laschen.»
«Das erste Blatt des Toilettenpapiers ist mit der übrigen Rolle verklebt, meist so stabil wie die zusammengewachsene Bruchstelle eines Knochens. Man reisst halt irgendwo auf und weiss nachher nicht,
in welcher Richtung weiterfahren.»
«CDs sind aufs engste in Plastikhüllen verschweisst. Um beim Öffnen nicht jedesmal die Hülle der CD zu zerkratzen, habe ich mir bei einem Kollegen, der Chirurg ist, ein Skalpell besorgt.»
In den Haushalten spielen sich peinliche Dramen ab, bei denen, wenn nicht Blut, so doch Ketchup fliesst. Es geht um Kunststoffflaschen mit Saucen, die herausflutschen, wenn man den Verschluss öffnet.
Um Hustensaftfläschchen mit Kindersicherung, deren auch die Erwachsenen nicht Herr werden. Um Konservendosen mit Selbstöffner, die bei Berührung knicken. Um Nachfüllbeutel mit Dusch-Gel oder
Flüssigreiniger, die so schwabbelig sind, dass sie beim Zufassen den Inhalt von sich geben. Und nicht zuletzt um Styropor-Leermaterial in Faltschachteln, das beim Auspacken die Wohnung füllt und dank
elektrostatischer Ladung auch am Körper haften bleibt.
Warum lassen sich Verpackungen nicht öffnen? Hat die Schweizer Wirtschaft nicht stets betont, dass ihre besondere Stärke in Köpfchen und Know-how liegt? Was ist nur bei der Verpackungsindustrie
los?
In Neunkirch im Kanton Schaffhausen wohnt der vielleicht einzige unabhängige Berater für Verpackungsfragen europaweit, Henri Haist. Er ist Inhaber der Firma hvb für Verpackungsberatung. Einen Namen
gemacht hat er sich als Praktiker und Tüftler, er hat eine Flaschenmündung entwickelt, die das Nachtropfen von Rahm verhindert, oder einen «ventilierenden Aluminiumsicherheitsverschluss mit
einstellbaren Druckhaltewerten und Dichtigkeitskontrolle», der es ermöglicht, undichte Flaschen zu erkennen und auszusortieren. Stolz weist er auf Branchenauszeichnungen wie «Swiss Star»,
«Certificate of Merit» und «Worldstar for Packing» hin.
Haist kennt die industrielle Produktion von der Pike auf. Bei ihm sucht der Alltagsforscher Antwort auf ein ätzendes Problem in Schweizer Haushalten: Wie bringt man die Gurken zum Glas heraus?
Genauer: Warum lässt sich das Gurkenglas nicht öffnen?
Alle kämpfen sie mit der Drehverschlussöffnung des Gurkenglases, und alle haben sie ihre eigene todsichere Methode, wie sich dieses öffnen lässt, zumindest theoretisch.
«Das ist doch kein Problem», verkündet eine Unternehmensberaterin, raffinierter als alle, geht sie doch nach Vorschrift vor – Drehen! – und liefert Stoff für eine Reportage. Sie drückt kräftig und
kräftiger, wobei sich ihr Gesicht verzerrt. Anschliessend holt sie ein Handtuch mit der Entschuldigung: «Ich rutsche ab.» Sie rutscht weiterhin ab und öffnet also eine Schublade im Küchenschrank,
stochert mit einem kleinen Messer unter den Deckelrand: «Dumm, die Klinge verdreht sich.» Dann nimmt sie ein stabileres Messer aus dem Besteck: «Ich kann es nur nicht richtig ansetzen.» Mit der
widerständigen Dose wandert sie zum Spültisch und hält sie unter heisses Wasser. Noch ein manueller Drehversuch. Noch einmal mit Handtuch. Der Fluch der Dame sei nur angedeutet. Dann schlägt sie mit
dem stumpfen Griff des Messers auf den Büchsendeckel, was die Spannung im Glas lösen soll, aber nur die ihre steigt, so dass sie ein letztes Mal zum kleinen Küchenmesser greift und wie eine geübte
Mörderin auf den Aludeckel einsticht, der sofort durchbohrt den Widerstand aufgibt.
«Es hat einen Geschlechteraspekt», kommentiert eine feministische Journalistin. «Ich ärgere mich darüber, dass ich als Frau nicht die Kraft habe, solche Verschlüsse aufzudrehen.» Eine Architektin
empfindet die feminine Benachteiligung ebenfalls und sagt: «Ich gebe Gurkengläser grundsätzlich meinem Mann – zusammen mit einem Handtuch.» Dieser, ein Techniker, verkündet die Lösung, die in der
Umfrage am häufigsten genannt wird: «Man bringt ein Gurkenglas auf, indem man es umgekehrt auf eine harte Fläche aufschlägt.» Hin und wieder bleiben Hicke auf dem Parkett.
Das Gurkenglas steht im Mittelpunkt eines nationalen Dramas, das sich indes meist ohne Publikum abspielt.
Fachmann Haist erklärt den technischen Hintergrund: «Gurken werden in der Regel heiss abgefüllt oder durch sogenannte Kopfraum-Bedampfung erhitzt. Der Twist-off-Verschluss (Deckel zum Drehen) dichtet
dank einem Vakuum, das beim Abkühlen entsteht. Je höher dieses ist, um so stärker hält der Deckel.» Im weiteren bestimmten die Oberflächenvergütung des Glases, die Haftung der Dichtung und der
Durchmesser der Dosenöffnung den Drehwiderstand.
Ein harter Drehwiderstand sei nötig zur Produktesicherung, verhindere er doch das unbefugte Öffnen der Dosen. Anderseits sollen sich diese wirklich tatsächlich öffnen lassen. «Das Ganze ist ein
schwieriger Optimierungsprozess», sagt Haist, «denn schliesslich sollte der Verschluss nach dem ersten Öffnen auch wieder verschlossen werden können.» Auch Schwankungen beim Einfüllen könnten zu
Schwierigkeiten führen. «Doch grundsätzlich ist jedes Verpackungsproblem lösbar», meint Haist und fügt spontan hinzu: «Das Greifen bei Gurkengläsern liesse sich erleichtern mit ovalen oder
vieleckigen Gläsern, mit stark gerippten oder genoppten Deckeln.» Kluge Idee, doch das hätte Einfluss auf den Produktionsprozess.
Wer bei der Wirtschaft nachfragt, warum nicht konsumentenfreundlichere Öffnungen produziert werden, findet Wenn und Aber. Glasdosenfabrikationsmaschinen wären anders zu konstruieren,
Einfüllvorrichtungen umzubauen. Industrie und Handel arbeiten meist mit Standardbehältern. Die Verpackungsindustrie reagiert allenfalls auf Bestellungen, doch der Besteller sucht seinerseits günstige
Normprodukte. Selbst in der Fertigung gibt es verschiedene Beteiligte: Die Glasindustrie und die Verschlussindustrie gehen nicht gemeinsam ans Werk. Der eine liefert den Behälter, der andere den
Deckel, und am dritten Ort wird das Gefäss gefüllt und verschlossen, auf einer Maschine, die auch noch andere Produkte verarbeiten muss, um ausgelastet zu sein. Und schliesslich ist da der Händler,
der vor allem will, dass möglichst viele Einheiten auf seinen Paletten und in seinen Gestellen Platz haben.
Niemand ist fürs Ganze zuständig. «So werden bei der Entwicklung neuer Produkte nicht nur Fortschritte gemacht», kommentiert Verpackungsberater Haist, «da keine Stelle die history einer Verpackung
und die damit gemachten Erfahrungen katalogisiert und studiert.» Und er regt an: «Es könnten hohe Summen eingespart und etliche Flops vermieden werden, wenn jeweils ein kompetenter Koordinator ein
Projekt und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen leiten würde. Ähnlich wie dies durch Architekt und Bauleiter in der Baubranche von jeher mit Erfolg praktiziert wird. Der
anfängliche Mehraufwand macht sich am Ende um ein Mehrfaches bezahlt.» Und einer aus der Branche, der nicht genannt werden will, sagt: «Eigentlich müsste Verpackung Chefsache sein.»
Telefon des Autors an den Vorsitzenden der Geschäftsleitung der Coop Schweiz, ob auch er Verpackungen für Chefsache hält. Der Pressesprecher fängt den Anrufer ab. «Ja, glauben Sie wirklich, Herr
Loosli kann sich um alles selber kümmern?» Keine Chance. Auch Chefs werden zugriffssicher abgedichtet.
«Tetrapackungen schneide ich unbesehen auf», sagt eine erfahrene Sekretärin. Und ein ebenso erprobter Familienvater ergänzt: «Ich reisse den Plastikeinsatz jeweils ersatzlos weg.»
Zivilisationskritisch meint er: «Die Techniker wissen, wie sie mit Raketen in den Irak kommen, aber nicht, wie man an den Inhalt einer Orangensaftpackung gelangt.»
Es fehlt nur schon die Gebrauchsanweisung, ob die Kunststofflasche nun einzudrücken ist oder herauszuziehen: Bei älteren Packungen ist sie einzudrücken, bei neueren herauszuziehen, zudem sind mehrere
Systeme auf dem Markt. Gebrauchsanweisungen wären nötig, doch eigentlich ist der Kunde nicht an der Lösung von Verpackungsproblemen interessiert, sondern nur an der Öffnung der Verpackungen.
Es würde sich nicht lohnen, von der verpackungsgeschichtlichen Peinlichkeit dieser Plastiköse auf Milch- oder Orangensaftkartons zu reden, wenn sie nicht so entlarvend wäre für den Zickzackkurs in
der Geschichte der Milchverpackung. Die Brique-Verpackung – der gute alte Milchkarton – war einmal ein ganz angenehmer Behälter, standfest, gut zu schliessen, an einer Ecke aufzuschneiden. Einziger
Nachteil: Man sah den Inhalt nicht, was durch den Produkteschutz begründet war. Dann kam sie in Verruf, weil sie aus Verbundmaterialien – Aluminium, Kunststoff und Karton – bestand. Um die Entsorgung
zu vereinfachen und die Wiederverwertung zu ermöglichen, setzte dann alle Welt auf Einstoffverpackungen, die eben nur aus einem einzigen Material gefertigt waren. So kam man auf den Schlabberbeutel,
im Fachjargon Schlauchverpackung genannt. Unangenehm für viele, wie ein Griff ans Euter. Dank einem Kunststoffbecher, in den sich der Milchbeutel stellen liess, konnte man diesen aufschneiden und
ausgiessen – ein paar Tropfen an die Götter waren unvermeidlich.
Dann stellte man fest, dass im Kunststoffbeutel Vitamine schneller zerstört wurden. Die Qualität des Beutels wurde verbessert - durch neue Beschichtungen. So verlor der Beutel seine entscheidende
Qualität, den Einstoffcharakter. Und viele Anbieter stiegen wieder auf Tetrapak um. Dabei entwickelten sie die Marketingidee der Wiederverschliessbarkeit. Die unmögliche Kunststofflasche war geboren.
Viele Konsumenten haben zwar nie gemerkt, dass mit ihr die Packung wieder geschlossen werden soll – was ja tatsächlich auch nicht richtig funktioniert –, und andere brauchen den Verschluss nicht,
weil sie die Milch mit ihrer mehrköpfigen Familie innert Stunden nach dem Öffnen verbraucht haben. Nur ein Werbegag? - Nicht ganz. Ein Händler lüftet das Geheimnis: «Wir haben diesen Verschluss wegen
der Fluggesellschaften eingekauft, die verlangten, dass die Milch nicht an die Decke geht, wenn das Flugzeug in ein Luftloch fällt.» Einwand: Nun sind aber nicht alle Milchkäufer Fluggesellschaften.
«Angesichts des dichteren Flugverkehrs werden sie immer wichtiger», sagt der Mann der Wirtschaft allen Ernstes.
So haben die Erdenbewohner dank der Verstopfung der Luftstrassen ein Problem im Kühlschrank. Wohl zu Recht gibt Haist zu bedenken: «Die Anforderungen an die Haltbarkeit von Produkten, die kurzfristig
konsumiert werden, sind zu hoch.» Im guten alten Milchkessi hielt die Milch auch nicht so lang. Hohe Haltbarkeitsanforderungen machen die Verpackung aufwendiger und die Verpackungsprobleme komplexer.
Haist ist nicht der Meinung, dass die beste Verpackung keine Verpackung sei, aber er ist überzeugt: «Einfach verpackt – und dies mit Köpfchen –, das ist am kundenfreundlichsten. Und am besten für
Getränke ist immer noch das gute alte Glas. Da sieht man, was man hat.»
«Noch mehr als die Lasche ärgert mich nur das berühmte Eckchen», erzählt eine Gymnasiallehrerin, die keine Lust hat, den Grossteil ihres Lebens an Öffnungen studierend in der Küche zu verbringen.
Beispiel: geschnittener Speck. Die Lehrerin erzählt: «Man ist jeweils freudig überrascht, dass auf der Schweisspackung angegeben ist, wo man aufreissen darf. Vielleicht zeigt gar ein Pfeil auf die
entscheidende Ecke. Doch will sich diese nicht lösen. Zweite Phase. Man versucht's mit dem Fingernagel. Dritte Phase: Man reisst wie wahnsinnig. Und schliesslich greift man doch zur Schere. Und
sinnvollerweise auch gleich zu den Gummihandschuhen, um nicht abzurutschen.» Sie sinniert einen Moment: «Wäre das nicht ein Titel», fragt sie, «Hausfrau auf Aufriss»?
Schweissverpackung und Perforationen weisen auf ein Grundproblem in der Verpackungswelt: Technisch lösbare Probleme werden zu praktisch unlösbaren, weil niemand von deren Lösung direkt profitiert.
Zwar ist die Produktion bei dünnen Materialien wie Aluminium- und Klarsichtfolien heikel, da geringe Toleranzschwankungen bereits zu Ausschuss führen können. Doch hält der Verpackungsberater Haist
auch die Probleme der Schweissverpackung – in der Fachsprache Sigelverpackung genannt – für lösbar. «Die Ecke ist oft einfach zu klein, so dass sie sich kaum zwischen zwei Fingern einklemmen lässt.»
Man müsste die Ecke anders konstruieren, so dass der Widerstand an der Verpackungsecke, wo die Hand mit Aufreissen beginnt, geringer wäre. Doch dafür müsste Geld eingesetzt werden.
Vergleichbar mit Schweissfolien sind Perforationen, diese gestrichelten und gestanzten Linien auf Tüten und Schachteln. Die Perforierung soll das Material zum Aufreissen vorbereiten, ohne dass die
Verpackung von vornherein undicht ist, was den Inhalt beschädigen könnte. Doch verlangt deren Herstellung eine hohe Präzision in der Berechnung der Materialien, in der Einstellung der Maschinen und
der Überwachung der Produktion.
Meist entsteht ein Problem durch eine Sparmassnahme. Hier werden ein paar Millimeter Material eingespart, dort ein Kontrollschritt weggelassen, und das Problem ist geschaffen.
Dass der Zustand desolat ist, liegt auch an den Konsumentenorganisationen, die kaum je konkrete Forderungen in diesem Bereich gestellt haben. Die sogenannte Convenience – die Funktionalität und
Kundenfreundlichkeit – von Verpackungen war ihnen weitgehend egal. Sie haben sich eher darauf kapriziert, das Übermass von Verpackung oder das Übermass von Werbung auf der Verpackung zu kritisieren
und mehr Umweltfreundlichkeit sowie Produkteinformation zu verlangen. Nicht einmal die Organisationen der speziell Betroffenen, etwa die Pro Senectute, haben sich des Problems bisher angenommen.
Angesichts der Tatsache, dass in der modernen Zivilisation jeder Zugang zu Lebensmitteln durch eine Verpackung erkämpft werden muss, eigentlich seltsam.
Dabei wäre offensichtlich, was verlangt werden muss. Es sei hier von einem Normalverbraucher formuliert: Behindertenfreundlichkeit. Zumindest für jene Verpackungen, die nicht ausschliesslich ein
Sondersegment wie die Jugendlichen ansprechen. Gurkengläser, Milchtüten oder Fleischhüllen, die geöffnet werden wollen, müssen auch für einen Verbraucher wie den Autor dieses Artikels zu bewältigen
sein, der wegen altersbedingter Hornhautveränderung die Perforation in der Plastiknaht nicht ohne weiteres sieht und wegen gelegentlichen Rheumas in den Gelenken eine Kilodose nicht wie ein
Streichhölzchen in der Hand hält.
Alle Erwachsenen sind potentiell behindert, befallen von motorischer Ungeschicklichkeit und technischem Unwissen. Viele haben im Winter tropfende Augen, und alle haben sie nasse Hände unter der
Dusche.
Eine Umfrageteilnehmerin schreibt: «Für mich ist momentan jede Art von Verpackung ein Problem. Ich habe die linke Hand gebrochen. Man probiere einmal, eine Senftube einhändig zu öffnen. Oft muss ich
warten, bis ein guter Geist anmarschiert. Postpakete jagen mich die Wand hoch. Und meist ist der Inhalt den Aufwand doch nicht wert.»
Eine Fünfzigjährige mit Rheuma meint: «Meine Hände schaffen es meist nicht, Thonbüchsen zu öffnen. Wenn man am Metallring zieht, schmerzt es. Und wenn man's allenfalls schafft, spritzt Öl oder Wasser
heraus.»
Ein Achtzigjähriger stöhnt bei jedem Kaffeerahmdeckeli. «Alles, woran man fingerlen muss, bewältige ich nicht. Sicher auch, weil ich nicht mehr die Geduld habe, daran herumzupröbeln.»
Faustregel: Wenn Verpackungenbehindertenfreundlich ausgelegt sind, so dass es keinen Holländerschlüssel aus der Autogarage braucht, um einen Drehverschluss zu öffnen, und keinen Meissel, um an den
Inhalt einer Thonbüchse heranzukommen, dann erst sind sie auch mit Sicherheit benutzerfreundlich für Nichtbehinderte.
Denn auch Normalverbraucher sind potentielle Behinderte. Eine Vierzigjährige: «Ich wünschte mir, dass jemand Rasierschaumdosen und Duschfit-Flakons erfindet, die nicht nur von durchtrainierten
Testpersonen unter Laborbedingungen geöffnet werden können, sondern auch von verschlafenen Frühaufstehern mit nassen Händen und ohne Spezialkenntnisse.»
Die Schuld am Scheitern wird oft genug von den Verbrauchern grad selbst übernommen. «Es funktioniert nicht, weil ich eine Ungeschicklerin bin», meint eine Befragte. Falsch. Es funktioniert nicht,
weil die Verpackungen nicht konsumentenfreundlich konstruiert sind.
Von seiten der Fabrikanten und des Handels heisst es zur Forderung der Konsumenten nach Funktionalität oft: zu teuer. Angesichts des Preiskampfes und Kostendrucks müsse jedes Gramm Verpackung und
jeder Arbeitsgang eingespart werden. Das Argument ist sack-schwach, um im Verpackungsjargon zu bleiben. Für Verpackungen ist doch stets genügend Geld da, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der
Kunden zu erregen. Dann ist keine Grösse zu üppig und kein Farbauftrag zu bunt - es darf selbst Chrom sein. Das wirkliche Problem liegt in den Köpfen: Die Anbieter glauben, dass Kundenfreundlichkeit
kein Verkaufsargument sei. Sie werden an dem Tag umdenken, an dem ein Grossverteiler Werbung macht mit dem Slogan: «Unser Gurkenglas lässt sich auch wirklich öffnen!» Oder: «Sie brauchen keine
Hausapotheke mehr, nachdem Sie unsere Fleischkonserve aufgemacht haben!»
Zudem, wer hat denn schon durchgerechnet, was der Ist-Zustand kostet, der Fehler, den niemand sieht? Die mittlere Unzufriedenheit einer breiten Konsumentenschaft ist teuer erkauft. Sie wird sich nur
noch etwas steigern müssen, um Handlungsanreize zu schaffen und das Umdenken der Anbieter zu bewirken.
Bis es soweit ist und menschengerechtere Verpackungen auf dem Markt sind, empfiehlt die wissenschaftliche Zeichnerin Eva Kläui «Warnpiktogramme», die auf die Gefahrenquellen aufmerksam machen: Nicht
zusammendrücken – Flüssigkeit wird sonst verschüttet. Nicht aufreissen, sondern aufschneiden – Körner rieseln heraus. Piktogramme zum Schutz von Tischtüchern und Kleidern, Fingernägeln und
Zähnen.
Und auf jeden Fall gehört in die Küche eine Allzweckschere für das Öffnen von geschweisstem Plastik oder perforiertem Karton wie für das Rundschneiden gebrochener Fingernägel. Und sinnvollerweise ein
Werkzeugkasten sowie Verbandszeug, enthaltend:
1 Schraubenzieher
1 Zange
1 kleiner Hammer
Desinfektionsmittel
Wundpflaster
Dies als Empfehlung für Brautgeschäfte und Geschenktip an Brautführer.
Vielleicht müsste man längerfristig die externen Kosten geltend machen und die Produktehaftung ausbauen. Die volkswirtschaftlichen Schäden, die durch die Vernachlässigung der Funktionalität von
Verpackungen entstehen, hat nämlich noch niemand erhoben. Eine Krankenkasse kann immerhin bestätigen, dass Schadenfälle entstehen, weil Jugendliche Cola-Flaschen mit Zähnen öffnen oder
Hobbyhandwerker einen Karton aufbeissen, wenn sie gerade mit den Händen zu tun haben. Die Dunkelziffer ist gross. Denn wer gesteht schon gerne, was die eingangs erwähnte Dame mit dem Zeltliproblem
tut: «Zwei Cervelats liegen fürs Abendessen bereit. Da sich diese nicht ohne Hilfe aus der Verpackung schälen lassen, nehme ich nicht ganz ladylike meine Zähne zu Hilfe. Statt wie in alten Zeiten mit
einem Schnürchen, sind die beiden Würste mit einer Metallklammer zusammengebunden, und statt der Wurst liegt ein abgebrochener Zahn auf meinem Teller. Fazit: drei Sitzungen beim Zahnarzt.» Die
Krankenkasse bestätigt: «Je nach Art des Schadens entstehen Kosten in der Höhe von 2000 bis 5000 Franken.»
Die Sachversicherungen können leider nicht separat ausweisen, wie viele Kleiderschäden durch unsachgemässes Öffnen von Salatölflaschen oder überraschend hinten zur Tube austretenden Senf verursacht
werden.
Wenn die externen Kosten internalisiert und Kundenzufriedenheit in den Rentabilitätsrechnungen quantifiziert würden, kämen vielleicht pötzlich das gute alte Einwickelpapier des Marronibraters und die
Mehrwegflasche des Milchmannes wieder zur Geltung.
Doch Kundenzufriedenheit scheint das geringste Problem von Verpackungsindustrie, Produzenten und Händlern zu sein. Die Verpackung zählt vor allem als Werbeträger. Und hier ist die Tendenz klar: Es
wird in Zukunft noch mehr verpackt werden, wie Fachleute meinen. Auch wenn pro Person in der Schweiz heute schon jährlich hundert Kilogramm Verpackungsmaterial als Abfall anfallen.
Denn in einem grundsätzlich gesättigten Markt -– wie das für fast alle Konsumprodukte der Fall ist – wird der Konkurrenzkampf am «POS» entschieden, dem Point of Sale, wie das Verkaufsregal in der
Fachsprache heisst. Und dort hilft nur die spezielle Verpackung zum Erfolg. Sie ist die Botschaft. Nur sie verleiht dem Produkt Charakter, Unterscheidbarkeit und Aura. «Vierzig Prozent der
Kaufentscheidungen werden am POS getroffen», verkündet ein Referent an der Fachtagung des Schweizerischen Verpackungsinstituts. «Und 76 Prozent der Kaufimpulse werden durch die Präsentation des
Produktes ausgelöst.» Rezept: «Durch die optimale Ausgestaltung aller am POS wirksamen Marketing-Mix-Instrumente lässt sich der Abverkauf um sechzehn Prozent erhöhen.» Oder siebzehn.
Die Verpackung wird zum Werbeträger Nummer eins. Nicht nur optisch. «Auch haptisch, akustisch, olfaktorisch und gustatorisch», wie an einem Referat an derselben Fachtagung zu vernehmen ist: auch für
Hände, Ohr, Nase und die Zunge. Im Klartext: Die gute Verpackung muss knistern wie die Pommes-chips-Hülle im Kino. Sie muss duften wie ein Parfum. Sie muss anlocken wie ein farbiges Osterei. Es ist
absehbar: Dereinst werden Orangen einzeln in riesige orangefarbene Schalen verpackt werden, die sich anfühlen und die ausdünsten wie die verpackte Originalorange. Nur eben intensiver. Die Verpackung
wird zum aufgeblasenen Inhalt.
«Aufriss in der Küche» erschien als «Extra» in der «Weltwoche» vom 1. Juli 1999. Der Autor dankt allen, die an der Umfrage teilgenommen haben: Uschi Arnold, Renato Bagattini, Silvio Baviera,
Vivianne Berg, Klaus Bonanomi, Barbara Bornhauser, Elisabeth Brüngger, Claudia Duelli, Wolfgang Durrer (Schweizerisches Verpackungsinstitut), Dieter Eckel, Walter und Lotti Finkbohner, Alice Gerig,
Gertrud Germann, Balthasar Glättli, Mario Gmür, Ludwig Hasler, Markus Knauss, Iris Krebs, Nicolas Lindt, Alice Lutz, Matthias Meili, Georges Müller, Thomas Müller, Frank von Niederhäusern, Katharina
Petersen von Blarer, Gaby Petri, Livio Piatti, Eveline Roth, Ruedi Schoch, Peter Schuppisser, Magi Wechsler, Urs Witschi und viele weitere.