Masken:
«Goldgott»
Eigentlich finde ich diese Maske kitschig. Das Sujet ist irgendwo zwischen der Totenmaske des Agamemnon und einem Sonnengott der Azteken angesiedelt. Und doch mag
ich nicht auf sie verzichten im Répertoire der Lebensmasken. Kitsch gehört dazu. Kitsch ist Lebensernst, mit ungenügenden Mitteln ausgedrückt. Damit haftet dem Kitsch echte Tragik an.
«Scheinling» heissen in der jenischen Sprache die Augen. Sie beleuchten die Welt. Ich bin ein Augenmensch. Seit ich Kind war, habe ich gezeichnet, am liebsten Gesichter. Ich habe die Titelbilder von Illustrierten gesammelt und an die Decke gepikst: mit den Köpfen von Filmdiven und Politikern. Und später habe ich Masken gebaut aus Keramik, den ich brannte, bemalte und mit Fundstücken von der Strasse collagierte. Einige Masken sind auf dieser Internet-Site abgebildet. Ich habe sie schon an unmöglichen Orten ausgestellt: so in einer einstigen Stasi-Zentrale im Osten Berlins. Ich möchte sie einmal in einem Wäldchen an Bäume nageln.
«Beim Schlummertrunk kamen die Maskenmörder», so titelte der «Sonntags-Blick» am 6. Februar 2000.
Mit einer Prise von historischem Unverständnis könnte man meinen, er habe die Ermordung des Bündner Freiheitskämpfers Oberst Jürg Jenatsch am 15 Januar 1639 in Chur beschrieben. Wie eine Zeugin
nämlich sagte, seien Jenatschs Mörder maskiert gewesen. Es habe da einer «ein umbkerten belz und ein grossen grauwen bart angehabt, einer sige schwartz bekleidet gewesen, die andern habent alle
rechte butzen kleider angehabt». Offenbar war in diesen Januartagen das Maskengehen üblich, und Jürg Jenatsch, der im «Staubigen Hütli» zechte, hatte nichts Böses geahnt. So wurde Jenatsch Opfer
seiner Gegner, der Häscher der Adligen von Planta.
Der «Sonntag-Blick» beschreibt ein banaleres Geschehen: «Im Löwen-Säli sitzt der Kirchenchor, und in der Gaststube hat sich der harte Kern der Musikgesellschaft zu einem Feierabendbier versammelt.
Die Stimmung ist ausgelassen. Um 22.40 passiert's: Zwei Unbekannte betreten die Dorfbeiz. Sie tragen weisse Tigermasken. In den Händen halten sie eine Feuerwaffe. Die Männer sagen kein Wort. Der
grössere der beiden bedroht Wirt Fabian Studer. Willst du Geld?‘ fragt dieser. Keine Antwort. Da greifen die Gäste ein. Bauer Urs Bärtschi packt den Räuber von hinten. Einer der beiden Täter
erschiesst ihn sofort.» Die Täter ballern um sich und verletzen auch eine Frau, Erna Stöckli, tödlich.
Die Tat erregte die Schweiz. Weil die bewaffneten Räuber im Ausland geboren waren. Aber auch wegen der Masken. Zwar sagte Dullikon die Fastnacht aus Pietätsgründen kurzerhand ab. Der Dorfladen aber
verkaufte nach der Tat Horrormasken, wie sie die Gangster trugen, für 6.50 Franken das Stück, made in China. Dass die Täter Tigermasken trugen, wie die bäuerliche Gesellschaft unter dem ersten
Eindruck gemeint hatte, erwies sich übrigens als falsch. Es waren Larven vom Typ Frankenstein und Dracula. Masken können verwirren.
Die beiden Täter, die einen Raub begehen wollten und dabei die grässlichen Morde verübten, stützten sich bei ihrer Absicht unbewusst auf ein angebliches Maskenrecht: den Diebstahl. Stehlen beruhe, so
führt der Volkskundler Karl Meuli aus, «auf uraltem und bedeutungsvollem Maskenrecht». Eigentlich müsste man sagen: Masken-Unrecht.
Maskentragen zur Verbrechensverübung bedeutet einen Missbrauch des für die Masken abgesteckten Freiraums. Denn der Maskengebrauch hat immer seine Regeln. Auch in der scheinbar deregulierten
postmodernen Zivilgesellschaft. Ausserhalb von Fastnacht, Kinderspiel und Sex ist Maskentragen nur zulässig zum Selbstschutz.
Dies vor allem in den Bereichen Beruf und Sport: Schweisser tragen eine Maske, um sich vor Funken zu schützen. Chirurgen und Chirurginnen schützen sich und die Patienten vor Infektion. Bienenzüchter
vor dem Angriff des Bienenvolkes. Polizisten in Kampfmontur vor Schlägen und Steinen. Zivilschutzangehörige vor Gas. Im Sport ist es der Eishockeygoalie, der damit seinen Kopf vor Verletzung durch
einen fliegenden Puck bewahrt. Die Fechterin, die einen unbeabsichtigten Degenstoss ins Gesicht abwehrt. Nur im Boxen hat die Maske unverständlicherweise nicht Einzug gehalten
Die moderne zivile Gesellschaft kennt keine anderen Masken. Das heisst dennoch nicht, dass sie wirklich maskenlos ist. Im Alltag wird die Verkleidung zum täglichen Ernstfall.
Mit besonderer Sorgfalt oder scheinbarer Nachlässigkeit wählen wir am morgen das Outfit für den täglichen Auftritt. Verlassen wir das Haus, geben wir uns lässig oder lieb oder launisch. Masken und
Requisiten geben uns Selbstsicherheit, Schutz und signalisieren, wer wir sein wollen. Schon die Wohnungseinrichtung wirkt wie unsere erstes Kostüm, eine artifizielle Haut. Am Arbeitsplatz setzen wir
die Requisiten, an denen wir erkannt werden wollten. Und den Büropult tragen wir vor uns, als wär’s unser eigener Bauch.
Da wird selbst das Automobil zur Ganzkörpermaske. Im Smart bin ich eine herzige Maus und im Stingray oder Jaguar ein Wildtier. Im Lateinischen wird für Maske auch das Wort persona verwendet.
In der heutigen Everything-goes-Kultur ist die Maske selber maskiert und als solche nicht mehr erkennbar. Man trägt Gesicht. Der Maler Alex Sadkowsky sagte einmal über die Bevölkerung Zürichs: «Der
Zürcher braucht keine Maske. Er trägt schliesslich stets eine, zeigt keine Gefühle, steht nicht zu seiner Sinnlichkeit.» In den letzten Jahren allerdings ist Zürich, die protestantischen Stadt
Zwinglis, geradezu zum Botschafter eines neuen Inszenierung geworden. Die personale Entfesselung wurde angekündigt durch die Street-Parade. Man ist locker und cool. Doch Mann und Frau tragen
Sonnenbrille. Das entscheidende Accessoire – eine Schrumpfform der Halbmaske – sitzt locker auf der Nase und blockiert den Augenkontakt. Jeder lebt sich selbst, aber seltsamerweise auf die gleiche
Weise. Denn jeder ist locker und cool und Sonnenbrillenträger.
Stars wie Madonna und Michael Jackson haben den heutigen Erwachsenen das Rollenverhalten vorgetanzt. Neue Leitfiguren sind immer wieder aufgetreten. Viele von ihnen gleichen seltsamerweise den
computergenerierten Spielfiguren.
In der virtuellen Welt der Computerspiele wird den Menschen ein Maskenpersonal angeboten fast wie im einstigen Barockdrama, den Kirchenspielen und den schauerlichen Rittersagen. Nur dass die Figuren
statt dem Holzschwert allenfalls ein Lasergewehr gebrauchen. Da feiert die Welt Merlins mitsamt den edlen Rittern und den bösen Bösewichtern Urständ.
Wie jedes Auftreten von Masken weist auch dieses seine Besonderheit auf. Das Entscheidende bei einer computergenerierten Figur wie der Archäologin Lara Croft ist, dass Maske und Kostüm nicht abgelegt
werden können. Auch wenn sie Sonnenbrille trägt. Dahinter ist keine Person. Die Persönlichkeit liegt ganz im Äusserlichen. Man delete die Maske und steht im personenleeren Raum.
So sind die neuesten Leitfiguren beschaffen. Und wer faustisch strebend sich bemüht, versucht ihnen ähnlich zu werden.
Mit dem Internet hat sich der Raum der Selbstdarstellung geöffnet. Was ist der Chat-Raum, der so manche süchtig macht, anderes als eine Bühne für Maskenspiele? Hier ist das Ich schön und
begehrenswert, oder eklig und böse. Hier bin ich Held oder Häschen nach Lust, wechsle Geschlecht und sexuelle Vorlieben und wage unverschämt zu sein wie nie im sonstigen Leben – ganz wie einst an der
Fastnacht. Und was am Maskenball die Demaskierung ist, ist für die Chat-Room-Süchtigen die live-Begegnung im Café – dann wenn die Lichter des Computers wirklich einmal ausgegangen sind. Maskenspiele
ohne Masken.
Es gibt Menschen, die den Übergang aus Fleisch und Blut zur virtuellen Figur schaffen. Der im Jahr 2000 jung verstorbene Weltmeister im Kickboxen, Andy Hug, hat es erreicht. Aufgewachsen in der
aargauischen Provinzstadt Wohlen, zeitweise tätig als Akkordmetzger, wurde er in Japan dank dem Sponsoring eines Millionärs zum Helden einer Retortensportart aufgebaut. Einer Sportart, die es vorher
kaum gegeben hatte. Als eine Figur, die mit Armen und Beinen fast so gut zuschlagen konnte wie das Kampfpersonal der Videospiele, fand er Eingang in die Welt der Comics – diesem anderen
szeneprägenden Medium virtueller Welten. Ein lebender Mensch als Comicstar, das schaffen nur wenige.
Die strömungsbewussten Angehörigen unserer Zivilgesellschaft tragen keine Maske, jedenfalls – ausser besagter Sonnenbrille – keine abnehmbare. Sie glauben offenbar, da alles erlaubt ist, was das
Leben an Formen hervorbringt, bräuchten sie die Maskerade nicht mehr, unter deren Schutz die Überschreitung des Alltags möglich wird.
Ist das Leben der Citys und Agglomerationen die nackte Wahrheit, die nicht mehr verhüllt zu werden braucht? Wohl kaum. Eher ist das postmoderne Leben der Agglomerationen die nackte Unwahrheit. Unsere
Zeit trägt ihr Gesicht als ihre eigene Maske. Man ist wirklich, als was man sich gibt. Das eingefrorene flüchtige Lachen ist schon die eisige ewige Wahrheit.
Die schnelle, flächendeckende Verstädterung mit ihrer Ausbreitung von Freiheit und Wohlstand hat zur Verwandlung der Individuen in Masken geführt, weil sie nicht begleitet war von gleich rasanter
kultureller Entwicklung. Kultur ist nicht rasant. So konnte der individuelle Konkurrenzkampf die Lücke füllen, der Kampf um ein Plätzchen an der Sonne, um Machtanteil, Anteilscheine und den Schein
von Glück.
Das ursprünglichere Sein, das in der Maskerade sich enthüllen könnte, ist nicht mehr vorstellbar, da das Sein Maskerade geworden ist.
Auszug aus dem letzten Kapitel der Publikation «Maskerade», erschienen 2001 in der Schriftenreihe der «Vontobel-Stiftung» Zürich.