Maske:
Zulu
Von aussen gesehen, wirken die Lebenswelten der anderen exotisch; von innen sind sie Alltag. Die indigenen Völker Afrikas, Polynesiens oder des Amazonasgebietes
haben für ihre Masken das Material ihrer Umgebung gebraucht, das sich finden liess. So schien es mir berechtigt, meine Objekte mit Materialien zu collagieren, die sich auf der Strasse oder auf meinem
Pult fanden: Caran d’Ache-Farbstifte bei dieser Maske eines Farbigen, von einem Europäer gezeichnet.
Seit Oktober 2014 wirke ich als Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse, der 1975 gegründeten Organisation der Schweizer Jenischen und Sinti, die heute geführt wird vom Präsidenten Daniel Huber, der mein Freund geworden ist. Ich habe mich nach Krisen zur Verfügung gestellt gemäss dem Motto: Freunden hilft man dann, wenn sie in Not sind.
Die Politik des Bundes – der Schweizer Regierung und den Verwaltungsabteilungen – gleicht in vielem dem, was die US-Behörden und die kanadische Regierung in den vergangenen Jahrzehnten gegenüber den indigenen Minderheiten praktiziert: Assimilation statt Anerkennung. Die Radgenossenschaft war eine Zeitlang gehörig unter Druck, auch von Seiten dieser Behörden.
Inzwischen haben wir einiges erreicht. Die Menschen heissen heute nicht mehr "Fahrende", sondern ihrem Eigennamen entsprechend "Jenische" und "Sinti" und sind auf der Basis der europäischen Minderheitenkonvention vom Bund als nationale Minderheit anerkannt.
Neueste Errungenschaft ist die gesamteuropäische Vernetzung, die 2018 in der Gründung eines "Europäischen Jenischen Rates" seinen organisatorischen Ausdruck fand. Ich durfte verantwortlich mitwirken. Nun fordern Freundinnen und Freunde namentlich in Österreich und Deutschland die Anerkennung der jenischen Bevölkerung als nationale Minderheit.
Manches ist dokumentiert auf der Homepage der Radgenossenschaft: www.radgenossenschaft.ch und mehr noch in der Zeitschrift "Scharotl", die vierteljährlich erscheint.
Meine eigenen entfernten Vorfahren kamen aus der Armutbevölkerung in Lothringen, die mit Jenischen und Sinti vermischt war.. Ich kann sie bis 1700 zurückverfolgen, in Zeiten, als etwa eine lothringisch-hessische sogenannte Räuberbande aktiv war, in der Jenische, Sinti und anderes verarmtes Volk zusammenkamen.
2023 erschienen, als Teil eines Lehrmittelprojektes, erarbeitet von einer Arbeitsgruppe, die sich für diesen Zweck konstituiert hatte und die und aus Vertreterinnen und Vertretern von Minderheiten und NGOs bestand, in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich. Sie arbeitete nach dem Prinzip "Nichts über uns ohne uns". Auf der Basis von Angehörigen der Minderheiten, die ihr Leben selber berichten und die in Wort und Bild sich zeigen. Die genauen Angaben zum prächtigen Buch, das im Buchhandel bestellt werden kann:
"Jenische-Sinti-Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz." Hg. Arbeitsgruppe "Jenische-Sinti-Roma". 160 Seiten. Münsterverlag, Zürich 2023, ISBN 978-3907301-54-8. Preis 29 Franken.
Erhältlich über die Buchhandlungen oder bei der Radgenossenschaft der Landstrasse.
Jenische.ch - Website mit Hintergrundinformationen zum Leben und zur Kultur von Jenischen, Sinti (und Roma) in der Schweiz und europaweit. Ein Einstieg für alle Interessierten, mit Materialien auch für Forschende. Eindringlich empfohlen.
2020 erschien im Bilgerverlag mein Buch "Jenische Reise". Im Untertitel nennt es sich "Eine grosse Erzählung". Darin ist alles - so meine eigene Interpretation - erfunden, erstunken und erlogen. Und alles ist wahr. auf eine tiefere Art wahr. Man erfährt vielleicht mehr über Jenische, als je in einem Sachbuch steht.
Dazu Klaus-Michael Bogdal, ein anerkannter Literaturwissenschaftler und Professor an der Uni Bielefeld. Er hat sich in einem Buch mit dem Titel «Europa erfindet die Zigeuner» kompetent mit Büchern über Jenische, Sinti und Roma befasst und kritisiert darin, wenn Autoren oder Autorinnen diese Minderheiten romantisieren. Was in Europa meist der Fall war, wo Schreibende ja meist schwankend zwischen Faszination und Verachtung auf Jenische, Sinti und Roma blickten. Bogdal hat Anfang 2022 auch das Buch «Jenische Reise « gelesen und äussert untenstehende persönliche Kritik dazu, die ich mit seiner Einwilligung veröffentlichen darf:
Inzwischen habe ich Ihre "Jenische Reise" endlich lesen können. Sie haben da wirklich viel gewagt -- und gewonnen. Zu den Stärken Ihrer Erzählung gehören sicher an vorderster Stelle das große Wissen über die Jenischen und und Ihre sprachlichen Darstellungsfähigkeit. Die Rahmenerzählung der Anna aus der Klinik, die den Leser in sich wandelnder Gestalt durch die Jahrhunderte führt, ist ein gelungener Zugriff auf das sperrige Thema. Besonders anschaulich und gelungen finde ich die Kapitel 'Zwischen allen Heeren', 'In Wäldern und Sümpfen', 'Baderin in der Stadt‘ und 'Heimatlos in der neuen Bürgerwelt'. Sie bringen den Lesern hier die Lebensweise der Jenischen näher, ohne sie zu romantisieren oder zu Opfern zu verkleinern. Ja, Sie haben einen Weg gefunden, über die Jenischen ohne Verachtung zu erzählen und ohne der Faszination an so genannten Außenseitern der Gesellschaft zu erliegen.
Bogdal äussert auch Kritik. Im Buch «Jenische Reise» werden Legenden eingeflochten von Sergius Golowin, Mythenforscher und seinerzeit Verwaltungsrat der Radgenossenschaft berichtet. .Bogdal schreibt dazu:
Ein wenig Schwierigkeiten habe ich mit dem Einflechten der Mythen und Legenden. Mir ist bewusst, wie wichtig Sergius Golowin für die politische Emanzipation der Jenischen war, doch mit seinen Büchern zur Esoterik kann ich mich nicht anfreunden. Aber Sie haben einen Roman und keine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben. Darin müssten auch legendenhafte Elemente ihren Platz haben.
Manchmal gehören auch Erfindungen zum Kulturgut, das dokumentiert werden soll. Wir danken Klaus-Michael Bogdal für diese Kritik. Wer das Buch also liest, erfährt wirklich etwas mehr über die Jenischen. Übers Innenleben einer kaum bekannten Bevölkerungsgruppe.
Im Buchhandel: Jenische Reise. Eine grosse Erzählung, Bilger-Verlag, Zürich 2020, ISBN 978-3-03762-087-8
Jenisches Gedicht
Zum Sprechen, Schreien, Singen, Flüstern
Sie sagen, sie sei vergangen
Sei gegangen die wilde Zeit
Der Alten, die vor uns
In der Sonne gegangen
Denen man die Kinder
Und dann die Freiheit nahm
Mach sie zahm!
Sie litten Angst und Scham
Aber nein, so stimmt es nicht
Die Zeit vergeht nicht
Nur Menschen vergehen
Und neue entstehen
Und jetzt sind wir da, voilà
Wir haben die Liebe probiert
Die alle gebiert
Sie schmeckt gut, oh ja
Eva, lass mich holen den Kuss
Den du in Reserve hältst –
Adam gib zurück den Kuss
Den du mir gestohlen
Die Zeit vergeht nicht
Jetzt sind wir im Sonnenlicht
Jetzt machen wir die Zeit
Die künftige Vergangenheit
Vom Morgen bis zum Abend
und in der Nacht
Die Zeit, von der ihr gedacht
Sie sei zum Verschwinden gebracht
Schiige, trink noch ein Bier
Zuviel Kaffee macht Magenweh –
Lori, Jogg, tanzen wir, hier
Statt Dummgeschwätz und Augenschön
So nennt uns doch, wie ihr wollt,
So wie ihr uns in Fleppen gerollt
Geritzt in euer papierenes Gold
Vagant und Streuner, Zigeuner
Wir gehen über Grenzen, unverzollt
Uns kümmert nur eins, wir leben, vois–là!
Wir zahlen mit Gold oder Schuld
Und Boden ist uns pi–pa, sowas von!
Wir sind Jenische eben, leben
Sind hart und weich
Wie Schwemmholz, stolz
Aus einem umgehauenen Reich
Sind Lebende, die wissen
Es kommt ein Tag nach der Nacht
Und nach dem Tag eine Nacht
Und nach der Nacht kein Tag
Frag weniger, frag nicht
Und noch ein Plamp getrunken
Und noch ein Tanz gedreht, verweht
Und noch ein Scheit auf den Funken.
Von mir aus auch Zigeuner
Willi Wottreng, erschienen in der Literaturzeitschrift "Orte", Nr. 3 /2025 August 2025