Maske:
Staatsbürger Nr. 2 500 000
Mein Staatsbürger - oder meine Staatsbürgerin, hat kein Gesicht. Manche werden nicht gesehen. Sie haben kein Stimmrecht wie einst die Frauen. Andere möchten sich
nicht beteiligen und verschliessen die Augen. Sie glauben nicht an Einfluss und dass Dinge verändert werden können. Allenfalls reissen sie danach den Mund auf. Aber sonst ist einigen egal, was
geschieht. Mein zweieinhalbmillionster Staatsbürger - oder meine Staatsbürgerin - bleibt ein undurchschaubares Wesen.
Ich habe diesen Job nicht gesucht, aber gefunden. Ich stand hinten auf der Liste, als Lückenfüller und Stimmenbeschaffer, auf Platz 9. Dann wurde mit dem Rücktritt der profilierten Gemeinderätin Ezgi Akyol ein Sitz frei. Sechs Kandidierende vor mir, davon fünf Frauen, verzichteten auf die Annahme des Mandats. Und hinter mir war keine junge Frau mehr, der ich den Weg versperrt hätte. So bin ich per 6. November 2020 in den Rat eingetreten. Und wie immer, wenn ich etwas mache, versuche ich, es ernsthaft, kompetent und manchmal vielleicht auch etwas eigenwillig zu machen. Danke an die AL für diese Möglichkeit, mitzukochen in der lokalen Politik. Die fulminante Zeit endete im April 2022, weil wir Sitze verloren.
Ich verstand mich vor allem als Sozialpolitiker. Ich war Vertreter der Stadtkreise 4 und 5 und namentlich Quartiervertreter aus dem Vieri. Und ich verstand mich in meiner Funktion als Geschäftsführer der Radgenossenschaft besonders auch als Vertreter der jenischen Community im Zürcher Stadtparlament. Hier ein kleiner Einblick in meine Vorstösse, Arbeiten und Projekte als Gemeinderat:. Uebrigens hat die SVP im Rat bereits versucht, mich als Jungspund im Rat zurechtzustutzen; offenbar ärgerte sie, dass alle meine bisherigen Anträge auf Dringlicherklärung von AL-Vorstössen wohlbegründet waren und darum auch durchgekommen sind. Und Stadtrat Golta fand, dass ich i misstrauisch sei gegenüber der städtischen Sozialpolitik, was nach den Erfahrungen der Jenischen mit Sozialpolitik auch in Zürich wichtig ist. Es besteht immer die Gefahr von Erziehung statt Betreuung und Herumschieben statt einer zurückhaltenden Unterstützung, die einen Hafen bietet und den Personen Selbstvertrauen zurückgibt.
Am 11. November 2020 habe ich mein erstes Postulat eingereicht, zusammen mit meinem Fraktionskollegen David Garcia Nunez: "Der Stadtrat wird aufgefordert zu prüfen, wie für gewerblich reisende Kleinfamilien in Notfallsituationen (wie z. B. während Pandemiezeiten) auf dem Albisgüetli Platz für 15 Wohnwageneinheiten geschaffen werden kann." Ich habe vor dem Rat vor allem auch argumentiert, dass diese Familien seit Jahrzehnten zu Zürich gehören und ein Teil der Zürcher Bevölkerung sind. Das Postulat wurde für dringlich erklärt und am 13. Januar 2021 mit 103 gegen bloss 11 Stimmen an den Stadtrat überwiesen. Ein schöner Erfolg für den Anfang der Amtszeit. Ein greifbares, genauer: ein befahrbares Resultat. Mitte April 2021 ist der Platz eröffnet worden.
Der Vorstoss findet sich auf der Homepage des Gemeinderates als Geschäft Nr. 2020/502, siehe: https://www.gemeinderat-zuerich.ch/Mitglieder/Detailansicht-Mitglied?mid=5df23934-340b-471d-9bf4-d2bf63af8f02
Es gilt alles zu tun, dass Sans-Papiers in dieser Stadt nach vielem Üblem, das sie erlebt haben, nicht auch noch durch eine abstrakte Bürokratie bedrängt werden. Es sind Menschen, die aus Gründen, für die sie meist nichts können, in existentielle Nöte geraten sind. Wären wir geboren, wo sie herkommen, hätte das uns selber passieren können. Ich wirkte darum mit im Vorstand des Vereins Züri CityCard und erinnere mich daran, dass man das Unmögliche versuchen muss, um das Mögliche zu erreichen. Im Gemeinderat habe ich, um einmal einen kleinen Vorgeschmack von einer möglichen praktischen Umsetzung zu geben, mit meinem Kollegen von der SP Marco Geissbühler ein Postulat eingereicht, das einen nichtdiskriminierenden Zugang zur Bücherausleihe bei Zentralbibliothek und Pestalozzibibliothek fordert. Der Vorstoss wurde dringlich erklärt und am 17. März überwiesen, mit Unterstützung von Grünen, SP und Grünliberalen. Ein Tropfen auf einen heissen Stein. Der genaue Wortlauf steht auf der Homepage des Gemeinderates als Geschäft 2021/47, siehe: https://www.gemeinderat-zuerich.ch/geschaefte/detailansicht-geschaeft?gId=f0089e48-a4da-4d2d-ad97-c3d42dc23ae2
Die Anteilnahme am Schicksal vieler jenischer Familien und mein eigenes Eintauchen in die Geschichte der Zwangspsychiatrie - siehe das Buch "Hirnriss" – haben mich bewogen, mich der Frage im Fürsorgewesen zu engagieren für möglichst viel Restfreiheit für alle, die auf Sozialfürsorge angewiesen sind. Dazu gehört ein Pilotprojekt "Housing First", das Fürsorgeabhängigen ermöglichen will, eine Wohnung ohne Vorbedingungen zu erhalten, ohne Verpflichtung etwa zu Therapien und Überwachungssettings. Es gibt derartige Versuche, die als erfolgreich gelten, etwa in Wien, aber auch in Finnland. Aus den gleichen Motiven habe ich mich auch im Abstimmungskampf gegen die Vorlage über Sozialdetektive engagiert. Die Vorlage wollte die gesetzlichen Grundlagen für eben sogenannte Sozialdetektive schaffen, die dann privat "observieren" dürften. Sie wurde mit hoher Mehrheit, also ein Erfolg für diejenigen, welche sozialen Druck ausüben wollen, angenommen. Doch bringt das ausser der Verbreitung von Schnüffelei nichts und ist auch wirtschaftlich bestenfalls ein Nullsummenspiel. Ich habe mich in einem Statement klar geäussert: "Im 20. Jahrhundert kam es zu Kindswegnahmen und Internierung von Erwachsenen. Am Anfang stand der scheinbar gutmeinende Wille nach Erziehung und gesellschaftlicher Disziplinierung. Der gleiche Geist wie bei den heutigen Sozialdetektiven. Diesen Geist oder Ungeist darf man nicht zurückkommen lassen."
Ich wirke mit im Arbeitsausschuss des "AnwohnerInnenvereins Hellmutstrasse" im Kreis 4. Derzeit engagieren wir uns gegen übermässige Lärmimmissionen, ohne dass wir vergessen, dass wir in einem Ausgehquartier leben und dass sogenannte Randständige zur Quartierbevölkerung gehören, deren Interessen ebenfalls zu wahren sind. Zudem waren wir in Aufruhr, weil der private Hauseigentümer unsere Liegenschaft auf dem freien Markt anbot. Unser Widerstand dagegen, der sich in Zeitungsartikeln niederschlug, war nicht wirkungslos: Auf 1. Februar 2021 hat die PWG, die Stiftung für preisgünstige Wohnen, unser Haus übernommen und damit über 30 Wohnungen dem spekulativen Mietzinsauftrieb entzogen. Wir freuen uns darüber und geben als Dank besonders acht auf Mieternot in unserer Umgebung: Im Kreis 5 jenseits der Gleise dehnt die Industriefirma Swissmill, eine Tochter von Coop, ihre Produktion übermässig aus. Mieterinnen und Mieter sowie Kleingewerbe am Sihlquai 280/282 wurden von Coop bedrängt. Wir von der AL unterstützten den Widerstand der Wohnungsmietenden und der Schreinerei gegen den Versuch von Coop/Swissmill, im Haus Direktionsbüros und eine Versuchsbäckerei einzurichten. Ich habe es im Gemeinderat gesagt: "Leider ist jedes Gipfeli, das wir von Coop kaufen, derzeit von schlechtem Geschmack." Im Kreis 5 drohen auch die Maag-Tonhallen abgerissen zu werden. Ich habe mit meinem Rats-Gspänli David Garcia Nunez ein Postulat eingereicht mit der Forderung, dass der Stadtrat in Hinblick auf deren Erhaltung bei der Eigentümerin Swiss Prime Site vorstellig werden soll.e
"Die Zürcher Kunstszene hat Pläne für den Schlachthof", titelte das "Tagblatt" am 15. September 2021. Es berichtete über die Ide des "Kunsthauses Aussersihl", in der historischen Halle des Schlachthofs eine "Kunstwandelhalle" zu schaffen, mit Ateliers, Schauräumen und Ausstellungen. Mein AL-Gemeinderatskollege David Garcia Nunez und ich haben diese Idee am selben Tag mit einem Postulat in den Gemeinderat getragen. Trotz breiter Kunstszene besonders im Kreis 4 fehlt es an einem Zentrum für diese auch wirtschaftlich bedeutende Branche. Auf dem Schlachthofareal wird gemäss städitschen Plänen unter anderem "Gewerbe" vorgesehen. Die Idee einer Kunstwandelhalle fügt sich passgenau in diesen Rahmen ein.
"Die neuen Enthüllungen über Zürichs Kolonialismus" ist meine Stellungnahme zur "Denkmaldebatte", veröffentlicht am 7. Oktober 2020 auf der Homepage der AL. Darin die Quintessenz aus der Diskussion zum Thema Sklavenhaltervergangenheit der Familie des Zürcher Politikers und Eisenbahnpioniers Escher: "Es geht nicht darum, die Ungerechtigkeiten der Geschichte bis auf die Steinzeit zurück rückgängig machen zu wollen, wie einige Politiker schon polemisch sagen. Es geht darum, sich auf Augenhöhe Menschen zu stellen, die solche Ungerechtigkeiten in ihrer Familiengeschichte heute noch mittragen, mitempfinden und zur Sprache bringen. Es ist eine Bereicherung und eine echte Herausforderung, ihnen so gegenüberzutreten. Es geht auch nicht um die Übertragung von neuen moralischen Masstäben in die Vergangenheit - die moralischen Masstäbe galten schon damals, zumal die Kolonialisten oft unter Berufung auf die Lehren christlicher Missionare handelten." Uebrigens: Das grösste Denkmal für Zürichs Sklavenhaltervergangenheit ist keineswegs die Escher-Statue auf dem Bahnhofplatz, sondern das Belvoir selber, in dem nun wirklich Sklavenhaltergeld steckt.
Siehe. https://al-zh.ch/artikel/die-neuen-enthuellungen-ueber-zuerichs-kolonialismus/
Zuoberst jeweils der neueste Vorstoss, Angaben unter der Geschäftsnummer mit Jahr, Titel gemäss Parlamentsdiensten.
Die Vorstösse habe ich jeweils mit einem andern Mitglied der Fraktion oder einem Mitglied einer andern Partei gemacht; bei aufgeführten Fraktionsvorstössen habe ich mitgewirkt. Details siehe auf der Homepage des Gemeinderates unter der Geschäftsnummer oder meinem Namen. Dort finden sich auch der Stand der Bearbeitung und die allfälligen Abstimmungsresultate.
2023/287 Als ich schon nicht mehr im Rat bin, reichen Mischa Mischow und Patrick Maillard von der AL ein Postulat ein, welches einen "jüdischen Erinnerungsort Pfauen" verlangt, einen Bereich im Schauspielhaus, in dem auch der spezifisch jüdische Bereich zur Geschichte des Schauspielhauses und zum Kulturschaffen in Zürich gewürdigt wird. Ich durfte im Vorfeld am Thema mitarbeiten. Nach einigen Widerständen zog Gemeinderat Jehuda Spielmann einen Einspruch zurück, so dass das Postulat am 20. März 2024 diskussionslos überwiesen wurde.
2022/27 Ein Fraktionspostulat der AL verlangt die Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke und der Brunngasse in Erinnerung an die ausgelöschte jüdische Bevölkerung im Mittelalter. Neu sollen sie "Frau-Minne-Brücke" und "Moses-ben-Menachem-Gasse" heissen. Ich durfte an der Ausformulierung mitwirken. Wurde im Rat abgelehnt, auch weil die Grünen mir unverständliche Zickzackbewegungen vollführten.
2022/5 Eine parlamentarische Initiative der AL – erstmals wird dieses neue Instrument genutzt – verlangt eine Erhöhung des sogenannten Normkostensatzes, des Beitrages der Stadt für private Kindertagesstätten, auf 130 Franken pro Tag, damit die Kitas kostendeckend arbeiten können und nicht weiter Niedriglöhne bezahlen müssen. Ich konnte die Ausarbeitung im Vorfeld unterstützen.
2021/465. Die Stadt Zürich soll ihren Einfluss im Verwaltungsrat der Flughafen AG geltend machen, damit die Menschenrechte bei Rückschaffungen garantiert sind und die Anwendung von Zwangsmassnahmen auf ein Minimum reduziert wird. Postulat von David Garcia Nunez. Mitunterzeichnet.
2021/482 Ein Postulat der AL – eingereicht von Willi Wottreng und Natalie Eberle – vom 1. Dezember 2021 verlangt, dass der Stadtrat mit der Bührle-Stiftung ins Gespräch treten soll in Hinblick an eine Schenkung der Sammlung an die Stadt. In der mündlichen Begründung zeigte ich, dass Bern dank der Schenkung frei über die Gurlitt-Gemälde forschen konnte. Und ich erläuterte, dass wir uns ein Kunsthaus auch ohne Bührle-Sammlung vorstellen können, dafür mit lokaler Zürcher Kunst, die eben auch universelle Fragen behandelt: Ein Thema seit Dada ist das Verhältnis von Vernunft und Irrationalismus. Der Vorstoss wird abgelehnt, weil SP und Grüne in Enthaltung gehen.
221/438. Am 10. November 2021 Vorstoss zur Bührle-Sammlung im Kunsthaus. Die Annexausstellung zur Geschichte des Waffenhändlers soll ohne Beschönigungen neu aufgearbeitet werden. Postulat von SP, Grünen und AL. Ich durfte das Postulat erarbeiten: Die SP erklärte in einer Medienmitteilung, das Postulat sei von ihr. Ich begründe das Postulat am 19. März 2022 im Rat, das schliesslich mit guter Mehrheit durchkommt.
2021/373 Für eine Kunstwandelhalle im Schlachthof. Postulat am 15. September 2021 mit David Garcia Nunez. Gestützt auf eine Initiative des Kunsthauses Aussersihl. Das Postulat wird im Rat angenommen. Bürgerlicher Widerstand verlangt (stattdessen) einen "Food-Cluster" auf dem Schlachthofareal, was dank SP-Unterstützung leider auch akzeptiert wird. Die Unterstützung durch die Off-Kunst-Szene schwächelt; ich höre, das sei halt noch weit weg. Aber die Weichen werden im Hintergrund jetzt gestellt.
2021/308 Auflösung des Bundesasylzentrums Duttweiler und Aushandlung einer menschenwürdigen Unterbringung von Asylsuchenden in der Stadt, Postulat der Grüne- und AL-Fraktion (Mitarbeit bei der Postulats-Erarbeitung und Präsentation vor dem Rat). Das Postulat wird am 7. September 2021 mit 65 zu 51 Stimmen überwiesen. Ein gelungener Coup von AL und Grünen.
2021/191 Pilotprojekt für ein Angebot an Wohnraum für Obdachlose und Suchtkranke in Zusammenarbeit mit einer geeigneten Institution, Postulat. Es geht um sogenanntes "Housing Frist" nach dem Beispiel Basels und anderer Städte. Präsentation vor dem Rat. Am 30. März 2022 stimmt der Rat mit der schönen Mehrheit von 82 zu 25 Stimmen dem Postulat zu. Selbst der Freisinn ist dabei, nur SVP und seltsamerweise GLP sind dagegen. – Am 27. Dezember 2023 meldet die NZZ auf der Titelseite "Zürich setzt bei Obdachlosen auf 'housing first'. Die Stadt startet ein Pilotprojekt – Vorbild ist Basel." Die Meldung nimmt Bezug auf den Vorstoss der AL und deren Begrüdnung durch Willi Wottreng.
2021/158 Anpassung der Sondernutzungsplanung Maag-Areal Plus bei Realisierung eines Projekts mit Verzicht auf den Abbruch der Maag-Hallen, Postulat wird überwiesen. Sichtbares passiert nicht.
2021/112 Betrifft Mütter- und Väterberatungsstellen, verlangt wird eine sozialräumlich und elektronisch niederschwelligere Gestaltung der Zugänglichkeit, Postulat
2021/100 Bericht betreffend die Überprüfung der Bundesasylzentren durch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (2019-2020), Umsetzung der verlangten Massnahmen für das Bundesasylzentrum Zürich., Interpellation der Fraktionen AL, Grüne, SP (Mitarbeit und Präsentation vor dem Rat)
2021/47 Zentralbibliothek Zürich und Verein Pestalozzibibliothek, Gewährung eines nicht-diskriminierenden Zugangs zur Bücherausleihe für Sans-Papiers, Postulat, eingereicht zusammen mit Marco Geissbühler SP. Per 1. April 2022 geben die ZB und die Pestalozzi-Bibliothen bekannt, sei die Ausleihe auch für Sans-Papiers frei möglich, dank Mitarbeit der Sans-Papiers-Anlaufstelle SPAZ. Ein schönes Resultat.
2020/502 Einrichtung eines Platzes für gewerblich reisende Kleinfamilien in Notfallsituationen auf dem Albisgüetliareal, Postulat. Der Platz wird auf April 2021 tatsächlich eingerichtet und steht seither reisenden Familien der Jenischen und Sinti zur Verfügung, wenn nicht Grossanlässe auf dem Areal stattfinden.
Eingetreten in den Rat bin ich am 6.11.2020, ausgetreten am 15. 4. 2022 nach Sitzverlusten der Linken und leider auch der AL. Die SP hatte sich damit vergnügt, gegen die AL zu kämpfen - unter anderem mit einer veritablen Petition – und wusste offensichtlich in jenem Zeitpunkt nicht mehr, wo der politische Gegner steht. Nun ja. Es war eine fulminante Zeit.
Der Ratspräsident, Mischa Schiwow von der AL, der in der Schlusssitzung vom 13. April 2022 alle scheidenden Ratsmitglieder namentlich verabschiedete, meinte: Willi Wottreng "ist zwar der Doyen unseres Rates, aber die Frische seiner Voten war sicher eher diejenige eines Jungpolitikers". Ich hätte mich auch "mit Verve und grosssem historischem Wissen in die kulturellen Debatten rund um das Schauspielhaus und um die Bührle-Sammlung eingebracht". Und der neue Fraktionschef David Garcia Nunez schrieb in einem freundschaftlichen Kärtchen: "In den letzten zwei Jahren warst du unser sozial-engagiertes Herz und unsere schärfste Klinge." – Danke allen.
Ich blicke ohne Schmerzen zurück, auch auf meinen Abgang. Er hat mich von Terminen befreit. Ich stehe weiterhin ein für eine ernsthafte, pragmatische, lustige und listige Linke. Ich wünsche mir eine Stadt Zürich, wo es noch möglichst viele unaufgeräumte Ecken gibt und sensible Menschen ausserhalb der Leitplanken. Ich werde weiter dazu beitragen und danke für die Zeit in der AL-Fraktion.
Am 14. Juli 2021 habe ich als AL-Gemeinderat zu einem Thema gesprochen, das mir besonders wichtig ist, die Behandlung von Sozialfürsorgeabhängigen. Es ging um die Anmietung von Wohnungen an der Friesstrasse in Zürich für solche Menschen. Es ist sozusagen mein eigenes sozialpolitisches Programm:
«Wir müssten immer wieder nachdenken über die Zielsetzung, für die wir die Anmietung der Räumlichkeiten vorsehen. Es geht um das 'Wohnintegrationsangebot Ambulante Wohnintegration' das zugeschnitten ist 'auf Einzelpersonen mit Suchtmittelabhängigkeit oder psychischen Beeinträchtigungen'.
Wir erwerben Räume, die wir unter Auflagen anbieten. Mit der Chance für die Menschen, zu bleiben, wenn die befristeten Mietverträge erneuert werden. Für das binden sich die Menschen mit Betreuungsverpflichtungen, die überprüft werden. 'Die Klientinnen werden angeleitet und überwacht' steht auf der Homepage der Stadt Zürich. Klientinnen, nicht Mietende, heissen sie.
Es ist so, die Menschen, die in betreute Wohnverhältnisse eintreten, tun dies freiwillig. Freiwillig, aber unter gewissen Bedingungen, die sie auch abhängig machen: Ihre Suchtkrankheit, ihre psychische Situation, ihre wirtschaftliche Lage, die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Sie machen es freiwillig, aber auch unter Druck.
Darum wissen wir nicht, wie weit die Bedingungen, die sie eingehen, auch dem, was ich einmal ihren selbstbestimmten, ihren freien Willen nenne, entsprechen. Also dem, was sie tun würden, wenn sie relativ frei handeln könnten wie wir, die diese Angebote nicht brauchen. Das heisst, wir entscheiden mit dem Raumangebot und der damit verbundenen Politik über fremde Menschen.
Ich weiss nicht, was richtig ist, und behaupte nicht zu wissen, was diese Menschen wirklich brauchen. Ich weiss nur, dass die, um die es geht, in diesem Saal heute nicht reden. Und nie reden werden. Wenn sie imstande wären, hier zu reden, hätten sie wohl ihre Sozialabhängigkeit hinter sich gelassen. Ich vermute übrigens, sie hätten die unterschiedlichsten Ansichten. Aber es gibt leider keine Gewerkschaft von Betreut Wohnenden.
Ich möchte also mahnen, anmahnen, dass wir, die wir ein Stück weit stellvertretend für andere Leute Weichen stellen, versuchen müssen, Bedingungen zu schaffen, die den Individuen so viele Freiheiten wie möglich belassen und ihren Freiheitsraum möglichst erweitern. So wie wir das selber haben möchten, wenn wir uns in der Vorstellung in ihre Lage versetzen.»
Interview, publiziert auf der Homepage der AL am 3. November 2020
Deine Werke haben regelmässig zu Debatten und Inspiration anderer Künstler*innen geführt. Warum?
Ich habe immer in den Rändern der Gesellschaft herumgestochert. Ich wollte mit den Protagonist*innen meiner Bücher einen Perspektivenwechsel anbieten. Besonders stolz bin ich auf mein Buch über die Psychiatrie: «Hirnriss». Damals wurde ich stark kritisiert. Mittlerweile ist klar, dass in den Institutionen Zwangsmassnahmen angewendet wurden.
Auf deiner Webseite begründest du deine GR-Kandidatur mit «Ein bisschen Unruhe muss sein». Wie bist du zur AL gekommen, wo wünschst du dir mehr Unruhe?
Ich bin ein 68er, der Politik fast im Blut hat. Ich lebe seit 50 Jahren im Quartier und war auch hier aktiv – v.a. in der Kulturgruppe der Kalkbreite. Die Kalkbreite sah ich als Gegenstück zur Europaallee, obwohl ich der Kalkbreite heute mehr politischen Mut wünschen würde. Ich suchte etwas, das kulturell, urban und vielfältig ist, Unruhe eben. So bin ich bei der AL gelandet. Ich begrüsse jede Art von Bewegung von unten.
Du warst 17 Jahre lang Vorstandsmitglied der Gesellschaft Minderheiten und bist Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Jenischen und Sinti in der Schweiz. Du setzt dich für die Rechte von Entrechteten und Marginalisierten ein.
Für mich ist es klar, dass es eigentlich keine Randgruppen gibt. Jede Gruppe am Rand hat ihren eigenen Weltmittelpunkt und muss respektiert werden. Dabei geht es nicht darum, eine paternalistische, wohlwollende Haltung einzunehmen, sondern, dass diese Menschen selber zu Wort kommen. Um Ermächtigung von Minderheiten. Viele haben die Vorstellung, dass alle Bürger*innen gleich sind. Wenn aber ganze Gruppen diskriminiert werden, kann man nicht einfach sagen, dass alle gleich sind. Da braucht es eine Minderheitenpolitik. Erstmals überhaupt nimmt mit mir ein Vertreter der jenischen Community Einsitz im Rat. Ich habe von daher eine besondere Sensibilität für Minderheiten und werde mich wie meine Vorgängerin für sie engagieren.
Du hast im September 2020 ein neues Buch rausgebracht, «Jenische Reise». Dein Verlag bezeichnet es als Europas Geschichte von unten.
Das Buch ist mir ein Herzensanliegen. Eine nigerianische Schriftstellerin hat gesagt, wenn man nur eine Geschichte erzählt, entwürdigt man diese Menschen. Es braucht viele Geschichten über die Jenischen. Wenn man nur sagt, dass sie in Wohnwagen leben und ihnen die Kinder weggenommen wurden, ist dies eine Herabsetzung. In meinem Buch erzählt die 1000 jährige Anna von ihren Jahrhunderten, die sie erlebt hat, und jedes Jahrhundert war anders. Anna ist eine widerständige Unterschicht-Frau aus dem schwer definierbaren Milieu der Jenischen.
Wie wurdest du politisiert?
Ich komme aus einem christlich-sozialem Elternhaus. Ich habe mich früher einmal bei einer maoistischen Gruppierung engagiert, weil ich die Gesellschaft fundamental verändern wollte. Ich sehe die Lösung heute nicht in dieser Art von Politik. Mir geht es aber darum, die Gesellschaft etwas menschlicher zu machen.
Was brennt dir parlamentarisch schon jetzt unter den Fingernägeln?
Die städtische Kulturpolitik ist mir heute zu fest auf Wirtschaftsstandortförderung ausgerichtet. Man muss regionale, lokale Tätigkeiten v.a. im Bereich bildende Kunst fördern. Das Überleben vom Art Dock liegt mir speziell am Herzen.
Zum anderen will ich mich quartierpolitisch engagieren. In meinem Quartier geht es momentan vor allem darum, wie wir mit der 24-Stunden-Spassgesellschaft und ihren Auswirkungen umgehen, ohne in einen Sittlichkeitspuritanismus zu fallen. Es braucht einen Schutz der Quartierbevölkerung ohne ein Verdrängen der Randbevölkerung im Quartier. Ich will eine kulturell und sozial bunte Stadt.
Interview: Ezgi Akyol